Ein Parlament für den Frieden

DIE REPORTAGE, 24. OKTOBER 2050 – Maria Melnik (65) aus Maloja (GR): «Ein Zusammenleben, in dem alle ihren Platz finden»

Die gestrige Parlamentserneuerung bedeutet eine epochale Zeitenwende in der Geschichte der Schweizer Demokratie. Anstelle einer regulären Wahl erstellte die KI P.E.A.C.E. aus der gesamten Schweizer Bevölkerung eine Selektion potenzieller Kandidat:innen, welche dann per Zufallsauswahl zu künftigen Parlamentarier:innen bestimmt wurden (siehe Infobox).
Wer sind diese Menschen, die von einer künstlichen Intelligenz dazu auserkoren wurden, die Geschicke unseres Landes zu lenken? In dieser Reihe stellen wir einige davon vor. Heute: Maria Melnik, 65, Bäuerin.
Wir treffen Maria Melnik an einem kalt-trüben Herbstmorgen vor ihrem gepflegten Bauernhaus in Maloja, am Ende des Oberengadins, wo die Schweiz schon fast ganz Italien ist. Sie ist eine gedrungene Erscheinung, ihre Haltung gezeichnet von lebenslanger körperlicher Arbeit, aber ihre Augen blitzen schelmisch, als sie uns auf eine Tasse Tee in die Stube bittet.
Komplett überrumpelt sei sie gewesen, als sie von ihrer Ernennung erfahren habe. Sie habe schon gewusst, dass diese Wahlen anders sein würden – schliesslich hätten die Medien ja auch nonstop über das neue Verfahren berichtet. Aber für sie sei das etwas Abstraktes, weit Entferntes gewesen, und mit all diesen neumodischen Computerintelligenzen sei sie sowieso etwas überfordert.
Während das Wasser auf dem alten Herd vor sich hin köchelt, erzählt Maria Melnik aus einem anderen Leben. Von einer armen, aber friedlichen Kindheit auf dem Hof ihrer Eltern, zwei Stunden östlich von Kharkiv. Von Oscar, ihrem Ehemann, mit dem sie den Betrieb übernahm, zwei Söhne grosszog. Und dann von den Bomben, der Zerstörung, der ständigen Angst. Oscar kam schon im ersten Kriegsjahr ums Leben, bei einer Aufräumaktion in einem Dorf in der Nachbarschaft. Pjotr, der ältere Sohn, starb ein Jahr darauf durch eine Landmine, und Beda, das Nesthäkchen, wenige Monate später bei einem wahllosen Drohnenangriff. Maria trauerte, verzweifelte – aber sie blieb. Half beim Wiederaufbau nach dem Waffenstillstand, wurde zu einer wichtigen Figur im Prozess der Versöhnung mit den russischen Nachbarn. Und dann, unverhofft und nach langen Jahren, verliebte sie sich wieder – in Jon Duri Tratschin, in dessen Elternhaus wir nun beisammensitzen.
Wie sie sich ihre Ernennung erkläre, möchten wir wissen. Maria schüttelt den Kopf, brummt vor sich hin, sie sei sich nicht sicher. «Es geht ja um den Frieden», meint sie. «Um ein Zusammenleben, in dem alle ihren Platz finden». Von dem verstehe sie schon etwas, davon, wie man Unversöhnliche wieder näherbringt, wie Unverzeihliches doch wieder vergeben werden kann, Stück für Stück, Schritt für Schritt. Das habe die Intelligenz sicher in ihrer Biographie erkannt.
Wofür sie sich denn besonders einsetzen werde, sobald sie im Amt ist, fragen wir nach. Die Menschen, meint sie. Und natürlich auch die Tiere, fügt sie mit einem Schmunzeln an, die seien schliesslich meistens die friedfertigeren Viecher.
Nein, natürlich wäre sie nicht unglücklich gewesen, wäre sie nicht ausgewählt worden. Sie hätte von der ganzen Geschichte sonst wahrscheinlich gar nicht so viel mitgekriegt, meint sie mit Schalk im Blick. Aber nun sei sie schon etwas aufgeregt, ob dieser unerwarteten Wendung in ihrem Leben. Und ja, es sei eine Ehre, die Schweiz mitgestalten zu dürfen. Viel mehr aber empfinde sie grossen Respekt vor dieser Aufgabe, vor der immensen Verantwortung. Wie auch immer, schliesst Maria, wir werden sehen, nicht wahr?
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